Über das Schicksal eines westdeutschen Teenagers, dessen Vater als DDR-Spion in die DDR »fliehen« musste… – Ein Zeitzeugengespräch mit Thomas Raufeisen
Thomas Raufeisen, ein Zeitzeuge zur Geschichte der DDR, besuchte das St.-Ursula-Gymnasium auf Einladung der Fachschaft Geschichte zu einem Zeitzeugengespräch mit der Jahrgangsstufe 9.
Herr Meyer und Herr Frantzen haben Herrn Raufeisen im Februar im Zuge einer Berlin-Exkursion mir Schüler/-innen der Q2 in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen kennen gelernt und nach Brühl eingeladen. Dort führt er für gewöhnlich Besuchergruppen als Besucherreferent durch die Gedenkstätte. Der Förderverein ermöglichte dankenswerter Weise durch seine finanzielle Unterstützung diese Veranstaltung.
Im Geschichtsunterricht der Stufe 9 ist die Geschichte der BRD und der DDR nach 1949 bis hin zur Wiedervereinigung 1990 ein wesentliches Thema. Besonders die SED-Diktatur und deren innerstaatliche Struktur gibt Anlass dies zum Unterrichtsthema zu machen. Die Bedeutung und die uneingeschränkte Macht des Ministeriums für Staatssicherheit (Stasi) sind besonders deutlich zu greifen, wenn ein Zeitzeuge seine persönliche Gesichte in den Kontext der komplexen deutsch-deutschen Geschichte stellt.
Thomas Raufeisen berichtete den Schülern/-innen über sein Schicksal: Er wurde in Hannover geboren und wuchs dort in seiner Jugend auf. Sein Vater war Geophysiker beim Industrieunternehmen Preussag und war als inoffizieller Mitarbeiter für das Ministerium für Staatssicherheit tätig. 1979 drohte ihm die Verhaftung wegen Spionage, so dass die Familie Raufeisen in die DDR ausreisen musste. Unter dem vorgetäuschten Vorwand, den kranken Großvater auf Usedom zu besuchen, fuhren Thomas Raufeisen und sein Bruder mit ihren Eltern über die Transitstrecke Richtung Berlin nach Ahlbeck. Dort, im Gästehaus der Stasi, erfuhren die Brüder zum ersten Mal etwas über den Hintergrund dieser Reise sowie alles über die Spionagetätigkeit ihres Vaters. Der minderjährige Thomas Raufeisen konnte im Gegensatz zum älteren Bruder Michael die Einbürgerung nicht verweigern und musste somit in der DDR bleiben. Sein Bruder durfte nach Hannover zurückkehren. 1980/1981 misslangen mehrere Fluchtversuche der Familie, u. a. über Budapest/Ungarn. Der nun 19-jährige Thomas wurde wegen »ungesetzlichen Grenzübertritts« und »landesverräterischer Agententätigkeit« zu drei Jahren Haft verurteilt. Seine Mutter musste für 7 Jahre ins Gefängnis, wohingegen sein Vater sogar zu einer lebenslänglichen Strafe verurteilt wurde. Nach Verbüßung der Haft in Hohenschönhausen und Bautzen II erhielt er 1984 eine Ausreisegenehmigung und reiste zurück in die Bundesrepublik. Erst im Frühjahr 1989 wurde auch seine Mutter aus der Haft entlassen; sein Vater hingegen starb bereits 1987 unter mysteriösen Umständen in der Haft nach einer OP an der Gallenblase.
Heute arbeitet er freiberuflich im Bereich der politischen Bildung vornehmlich als Besucherreferent in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Er hält auch Vorträge, Lesungen und führt Zeitzeugengespräche in Schulen und bei Bildungseinrichtungen.
Das schockierende Schicksal von Thomas Raufeisen ist hierfür ein bewegendes Beispiel. Eine solche Form des Geschichtsunterrichts jenseits des Geschichtsbuchs ist in jedem Fall nachhaltig und wird den Schüler/-innen im Gedächtnis bleiben und hoffentlich langfristig zu einem reflektierten Geschichtsbewusstsein beitragen.
Die Schüler/-innen der Jahrgangsstufe 9 hatten zuvor mit ihren Geschichtslehrern/-innen die wesentlichen Stationen der Geschichte der Bundesrepublik und der DDR seit der doppelten Staatsgründung 1949 in den Blick genommen: Demokratie vs. Sozialismus, soziale Marktwirtschaft vs. Planwirtschaft, Adenauers Westintegration, Volksaufstand am 17. Juni 1953, Mauerbau 1961 und die Ostpolitik von Willy Brandt. Somit wurde eine Grundlage geschaffen um die Arbeitsweise der Stasi nachzuvollziehen und deren Untersuchungsgefängnis in Berlin-Höhenschönhausen zu begreifen.
Durch die sehr persönlichen Lebenserinnerungen von Thomas Raufeisen wurde deutlich, dass die Schüler/-innen sehr drastisch nachempfinden konnten, was es wohl bedeuten muss, wenn ein 16-jähriger Jugendlicher ohne jegliche Vorahnung gemeinsam mit seiner Familie in die DDR gehen muss und erst nach einer Gefängnishaft von 3 Jahren und insgesamt 5 Jahren alleine ohne Eltern, die immer noch ihre Haftstrafen verbüßen müssen, in die Bundesrepublik zurückkehren darf. Die Schüler/-innen stellten viele Fragen um zu verstehen, wie Thomas Raufeisen sich gefühlt haben mag, wie er diese Zeit im Gefängnis überhaupt überstanden hat und wie er heute mit seinem Schicksal umgeht.
Daniel Meyer / Coloman Frantzen